50 Jahre Männermut

Von Judith Stamm

«Was feiern wir heute?» dachte ich am letzten Sonntagmorgen mit meinem ersten wachen Gedanken. Natürlich, es fiel mir sofort wieder ein. Wir feiern «50 Jahre Männermut»!

Ich liess Revue passieren, was ich in der letzten Zeit alles über die Einführung des Frauenstimmrechts am 7. Februar 1971 gehört, gesehen und gelesen hatte. Und kam zum Schluss, dass es seinerzeit ein ungeheurer Mutsprung des stimmberechtigten Teils unserer Bevölkerung, also der Männer, gewesen war, die politischen Rechte mit den Frauen zu teilen. Mit einem «mutigen Ja» auf dem Stimmzettel hatten sie auf nationaler Ebene das Recht, zu wählen, gewählt zu werden, über Sachfragen abzustimmen, gegen ein vom Parlament erlassenes Gesetz das Referendum zu ergreifen, einen Vorschlag für eine Abänderung der Bundesverfassung einzureichen, auch auf die Frauen übertragen! Dafür bin ich ihnen dankbar!

Und das machten sie nur zwölf Jahre nach einer Abstimmung zum selben Thema, die negativ ausgegangen war. Beide Male wurde die Abstimmung auf einen Sonntag des Monats Februar angesetzt, auf den 1.2.1959 und den 7.2.71. Was war in diesen zwölf Jahren mit den Männern in der Schweiz passiert? Hatten sich die «Biorhythmen» in einer wesentlichen Art verändert?  In diesen zwölf Jahren waren neue Jahrgänge ins Stimmrechtsalter eingetreten. Waren es etwa die bewegten 68-Jahre, deren Auswirkungen bis ins Abstimmungsverhalten schweizerischer Stimmbürger hinein reichten? Fragen über Fragen! Ein weites Feld für wissenschaftliche Forschungen tut sich hier auf!

Die Stimmbeteiligung war an den beiden Abstimmungssonntagen unterschiedlich. Sie betrug 1959 bei 1`480`555 Stimmberechtigten 66.72%. Zwölf Jahre später waren es von 1`654`708 Stimmberechtigten 57.72%, welche ihre Stimme abgaben. Das Verhältnis der Ja-Stimmen zu den Nein-Stimmen blieb bei beiden Abstimmungen ungefähr gleich. Nur standen 1971 zwei Drittel Ja-Stimmen (621`109) einem Drittel Nein-Stimmen ((323`882) gegenüber. 1959 war es umgekehrt gewesen. 323`727 Ja standen wuchtige 654`939 Nein gegenüber. Die Zahlen stammen von der Bundeskanzlei.

Was hatte sich im Gemüt, im Frauenbild, der stimmberechtigten Männer in zwölf Jahren Grundlegendes verändert?

Ich habe keine andere Erklärung als diese: die Mehrheit der Männer hatte zum Mut der alten Eidgenossen zurückgefunden. Sie hatten die gegnerischen Argumente, die einen allgemeinen Niedergang der Gesellschaft voraussagten, in den Wind geschlagen. Sie hatten in Kauf genommen, dass in Zukunft durch den Einfluss von politisch engagierten Frauen einige ihrer Privilegien wanken würden. Ich erinnere nur an die Revision des Eherechts, in Kraft getreten am 1.1.88, welche den letzten Hort des männlichen Patriarchats in unserer gesellschaftlichen Ordnung lautlos in sich zusammensinken liess.

Überhaupt konnte niemand voraussagen, wie die «Verdoppelung» der Stimmbürgerschaft das zukünftige Leben der Schweiz beeinflussen würde, bis in die Atmosphäre in der Familie hinein. Natürlich wurde wild spekuliert, es wurden Voraussagen gemacht, in welche politische Richtung denn die zukünftigen Stimmbürgerinnen tendieren würden. Aber es war eine ungewisse politische Zukunft, der die Männer hier den Weg ebneten. Sich für eine Entwicklung zu entscheiden, deren Auswirkungen nicht absehbar waren, benötigte Mut. Viele kamen bei der zweiten Abstimmung zurück auf ihre früher gefasste Entscheidung. Sie entschieden sich für eine Veränderung, deren Endresultat unabsehbar war.

Sie hatten sich die treffenden Zeilen des Berner Schriftstellers und Dichters Kurt Marti (1921 – 2017) zu Herzen genommen: «Wo chiemte mer hi wenn alli seite wo chiemte mer hi und niemer giengti für einisch z`luege wohi dass mer chiem wem me gieng.»

Noch ein Wort zur Klage, in der Schweiz sei das Frauenstimmrecht spät, verspätet, eingeführt worden. Das lässt sich mit Jahreszahlen belegen. Nur, die Gegenfrage sei erlaubt. Gibt es Länder, in denen das Frauenwahlrecht (darauf beschränkt es sich) zu früh eingeführt wurde? In jenen Ländern nämlich, in denen sich, trotz Frauenwahlrecht, die prekären Lebensbedingungen von Frauen und Mädchen, besonders in tieferen gesellschaftlichen Schichten, wenig bis gar nicht verändert haben?

Auch hier öffnet sich ein weites Feld für Forschungen und Recherchen!

10. Februar 2021 judithstamm@tic.ch

 

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.