Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Nochmals noch

Von Helen Christen

Im Hinterhalt lauern weitere verräterische Noch-Gebräuche (siehe Kolumne zu verräterischen Wörtchen). Aus dem Munde heutiger Grosseltern, also meiner Generation, vernehme ich gelegentlich, dass deren (Schwieger-)Töchter und (Schwieger-)Söhne einer Erwerbsarbeit nachgehen und noch ein Pensum von 30 oder 80 Prozent haben. Nicht selten wird das Noch sekundiert von immer oder nur – und es zeigt sich eine klare Geschlechtstypik: Die (Schwieger-)Töchter arbeiten immer noch 30 Prozent und die (Schwieger-)Söhne nur noch 80 Prozent. Immerhin, könnte man sagen, es tut sich was. Freilich wird der Fortschritt, wofür ich die geschlechterunabhängige Erwerbstätigkeit halte, von mentalen Bremsklötzen im Zaum gehalten. Die Nochs nämlich legen unausgesprochene Vorbehalte offen. Immer noch: Frauen sind «eigentlich» zu 100 Prozent für die inhäusige Tätigkeit als Hausfrau und Mutter zuständig. Nur noch: Männer sollten sich «eigentlich» zu 100 Prozent um die aushäusige Erwerbsarbeit kümmern. Solche Vorstellungen sind auch nach dem 22. September 1985, als 54,7 Prozent der Stimmberechtigten für ein neues Eherecht ohne männliches Oberhaupt und damit gegen den alten, selbstentmündigenden Knebelvertrag votierten, nicht gänzlich verschwunden. Und diese subkutanen Widerhaken sind, nebenbei bemerkt, nicht etwa an den rechtlichen Status einer bestimmten Lebensform, sondern einzig an das Geschlecht gebunden.

Meine Generation: Vor einem halben Jahrhundert tat sich für Frauen die Welt auf. Frauen konnten nun alles werden, es musste ja nicht gerade etwas so Verwegenes wie Linienpilotin oder Schweizergardistin sein. Sicherheitshalber gab es jedoch noch geschlechtsspezifische Lehrpläne: Während Mädchen den Unterschied zwischen Stricken, Weben und Filzen kennenlernten (wofür ich als passionierte Lismerin durchaus dankbar bin), gaben sich Buben mit Geometrie ab, einer Geheimlehre mit letzten Spuren an der Wandtafel. Das weitsichtige Erziehungsgesetz sah damals auch vor, dass alle «Töchter» ein Mindestmass an hauswirtschaftlichem Knowhow erwarben. Davor konnte kein Besuch des Gymnasiums oder des Lehrerseminars schützen. Das «Obli», auch Rüebli-RS genannt – Investition: zwei Mal ein paar Wochen aus dem Zeitbudget der Sommerferien –, garantierte, dass auch künftige Tierärztinnen, Agronominnen, Lehrerinnen oder Richterinnen einem Haushalt, der da im späteren Leben so oder so auf sie wartete, gewachsen waren.

Meine Generation: Stellte man als Kind, als Jugendliche die Warum-Frage zu Geometrie und Rüebli-RS, gab es ein Schulterzucken, schliesslich waren die Unterschiede der Natur geschuldet und damit unumstösslich. Antworten aber waren da. Längst hatten nämlich Frauen meiner Grossmutter-Generation – Simone de Beauvoir *1908 –, ungefähr meiner Mutter-Generation – Iris von Roten *1917 – und in etwa meiner eigenen Alterskohorte – Gret Haller *1947 – die Mechanismen der ungleichen Geschlechterwelt messerscharf analysiert und nach neuen Lebensmodellen gesucht. Diesem Dreigestirn verdanke ich meinen feministischen Kompass: War Simone de Beauvoir augenöffnend, so faszinierte mich an Iris von Roten der unbestechliche Blick und an Gret Haller die gradlinige Vernünftigkeit. Bis heute ist Hallers Motto «Versorgungsunabhängigkeit für alle» für mich ein, wenn nicht der Schlüssel für eine (geschlechter-)gerechtere Welt:

«Die Spaltung in Frauenwelt und Männerwelt wird auf der ideellen Welt dadurch überwunden, dass alle Personen für beide Bereiche zuständig werden. Auf der Ebene der Organisation unseres Zusammenlebens heisst dies, dass die Frauenwelt nicht mehr die häusliche Versorgung für die Männerwelt liefert, und die Männerwelt nicht mehr die wirtschaftliche Versorgung für die Frauenwelt. Frauen und Männer tragen gleichviel zu beiden Teilen der Versorgung bei. Vor allem aber sollen Frauen und Männer weder durch die häusliche noch durch die wirtschaftliche Versorgung voneinander abhängig werden.» (Gret Haller, «Frauen und Männer», 1980, S. 121) Keine Bange: Ein Kapitel mit dem Titel «Und die Kinder?» geht nicht vergessen.

Meine Generation: Unser (zeitlich) angestaubter feministischer Werkzeugkasten mag in Zeiten von Gender-Fluidität heute TERF(=Trans-Exclusionary Radical Feminism)-verdächtig wirken und da und dort einer sanften Renovation zur Verbesserung der Alltagstauglichkeit bedürfen. Allerdings scheinen mir meine drei Säulenheiligen Simone, Iris und Gret so lange nicht ausgedient zu haben, bis ich bei zwei Menschen, die sich für ein gemeinsames Leben zusammengetan haben, keine Prognose-Sicherheit mehr habe, wer von beiden was zu Haushalt und Geldtopf beiträgt. Oder so lange, bis sowohl eine Evi Allemann als Mutter mit schulpflichtigen Kindern als auch ein Alain Berset als Vater mit schulpflichtigen Kindern gehandelt werden.

PS: Einfach Judith Butler lesen? Klar («Das Unbehagen der Geschlechter», Frankfurt, 1991)! Aber unbedingt eben auch geistige Gründermütter wie Simone de Beauvoir («Das andere Geschlecht», Hamburg, 1951), Iris von Roten («Frauen im Laufgitter», Bern 1958) und Gret Haller («Frauen und Männer», Gümligen, 1980).

15. November 2022 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.