Rosmarie Dormann. Bild: Joseph Schmidiger

Wer schafft den Sprung in den Bundesrat?

Von Rosmarie Dormann

Am 6. Dezember 2022 ist in Bern die «Nacht der langen Messer». Das ist ein Begriff unter den Politikern. Dabei geht es nicht um einen Krieg, nicht um ein Ritual, nicht um eine Messerbörse. Es ist die Nacht vor der Bundesratswahl. Denn am Tag danach wird die Bundesversammlung zwei neue Mitglieder in die Landesregierung wählen. Einerseits verlässt Ueli Maurer Ende Jahr den Bundesrat, anderseits tritt Bundesrätin Simonetta Sommaruga vorzeitig zurück.

Bundesratswahlen sind immer etwas Besonderes. Hoffentlich! Wir sind zwar nicht in Syrien, in der Türkei, in Russland oder in den Vereinigten Staaten, wo die Macht der Regierenden das Volk beherrscht und sich furchterregende Szenen abspielen. «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich» geben in diesen Ländern aktuell die Mächtigen zu verstehen und begegnen Andersdenkenden mit Drohungen und Hass. In der Schweiz hat das Volk kein Mitbestimmungsrecht bei den Bundesratswahlen. Trotzdem erwarten die Menschen in der Schweiz den Wahltag mit grosser Spannung. Auch in der Vereinigten Bundesversammlung sind Bundesratswahlen ein Höhepunkt in der politischen Agenda. Das war auch für mich nicht anders.

Ich konnte 1987 als neu gewählte Nationalrätin bereits in der ersten Session einen Bundesrat wählen. Es ging um Adolf Ogi, der bis zu seiner Wahl als Nationalrat im Saal vor mir sass. Ich kann mich noch bestens erinnern, wie ich am Morgen des Wahltages aufgeregt war und hoffte, ja nichts falsch zu machen. Rund um die Wahl von Adolf Ogi kursierten im Voraus der Wahlen in der ganzen Schweiz böse Witze über Ogi. Man stempelte ihn als Oberschüler ab, der kaum lesen und schreiben und als Kandertaler kaum ein Wort französisch sprechen könne. Zum Glück nahm Adolf Ogi diese dummen Witze aus dem Volk mit Gelassenheit und nicht selten setzte er noch einen Witz über sich obendrauf. Hat nicht Adolf Ogi als Bundesrat eine glänzende Karriere hingelegt?

Von 1948 bis 1984 waren im Bundesrat lauter Männer. Dann wurde 1984 die damalige Nationalrätin Elisabeth Kopp als erste Frau in den Bundesrat gewählt.  Böse Stimmen meinten damals, nicht Frau Kopp, sondern viel eher ihr Ehemann hätten das «Zeug» für einen Sitz im Bundesrat. So wurde Elisabeth Kopp als Bundesrätin mit Argusaugen beobachtet und kritisiert. Und wir erinnern uns an den unliebsamen Rücktritt von Frau Kopp anfangs 1989 aus dem Bundesrat. Wäre das wohl auch passiert, wenn sie ein Mann gewesen wäre?

Obwohl den Schweizer Frauen 1971 im dritten Anlauf von den Männern das Stimm- und Wahlrecht zugestanden wurde, dauerte es noch 13 Jahre bis zur ersten Bundesrätin. Meine beiden damaligen Kolleginnen, Josy Meier und Judith Stamm aus Luzern, beide bestens ausgewiesene Juristinnen und Politikerinnen, hätten die Voraussetzungen für ein Bundesratsamt längst gehabt. Doch sie fanden nicht mal in der eigenen Partei Unterstützung. Die Wahl einer Frau in den Bundesrat war noch nicht reif.

1984 schaffte Otto Stich ganz überraschend die Wahl in den Bundesrat und verhinderte dadurch Nationalrätin Lilian Uchtenhagen den Einzug in den Bundesrat. Otto Stich wusste nichts von seinem Glück, bis man ihn in Basel vom Arbeitsplatz als neu gewählten Bundesrat abholte. Schliesslich musste er noch am gleichen Tag die Annahme der Wahl erklären.

In der damaligen Zeit hatten es Frauen äusserst schwer von einem männerlastigen Parlament gewählt zu werden. Ich erinnere an die ominöse Kandidatur von Christiane Brunner aus Genf. Die Medien von damals stellten sie bis ins letzte Altersheim-Zimmer als unwürdige Kandidatin vor. Christiane Brunner war eine erfahrende Nationalrätin und ausgebildete Juristin. An ihrer Stelle wurde ein Parteikollege aus der Westschweiz gewählt. In der Folge verlangte seine Partei, dass er die Wahl nicht annehmen dürfe. Im Nationalratsaal ging es fast zu wie auf einem Marktplatz. Josy Meier, Judith Stamm und ich suchten in der Mittagspause ein eher unbekanntes Restaurant auf, da wir von diesem «Politdrama» Distanz brauchten und in Ruhe essen wollten. Nach der Mittagspause wollten wir uns auf den Weg ins Bundeshaus machen. Da kam aus einem Hinterzimmer des Restaurants ganz allein der eben vor zwei Stunden neu gewählte Francis Mathey vom Mittagessen. Obwohl wir Frauen ihn natürlich nicht gewählt hatten, tat er uns spontan sehr leid. Nach einer Bedenkzeit von einer Woche zog sich der gewählte Neu-Bundesrat zugunsten einer Frauenwahl zurück.

Dann begann das grosse Hickhack. Anstelle von Christiane Brunner wurde eine Woche später Ruth Dreifuss in den Bundesrat gewählt. Auf dem Bundesplatz standen hunderte von Frauen aus der ganzen Schweiz mit pinkroten Ballonen und bestürmten uns Wählende für eine Frauenwahl. Wir alle hatten «die Nacht der langen Messer» hinter uns. Schliesslich suchten wir am Vorabend in gemischten Gruppen die Restaurants auf, berechneten die notwendige Anzahl Stimmen und versuchten noch den einen oder anderen Nationalrat von einer Frauenwahl zu überzeugen. Auch wurden Wetten abgeschlossen. Niemand wusste, wer wo stand, um sich gegenseitig nicht den Rang abzulaufen.

Am 10. März 1993 wurde Ruth Dreifuss, die vorher nicht Nationalrätin war, ehrenvoll zur Bundesrätin gewählt. Eigentlich kannten sie die Wenigsten persönlich. Sie war bei der Wahl in den Bundesrat die höchste Gewerkschafterin der Schweiz. Bundesrätin Dreifuss war sehr kompetent und wurde zu einer allseits beliebten Landesmutter. Sie war übrigens 1999 die erste Bundespräsidentin der Schweiz.

Sechs Jahre später schaffte die damals junge Ruth Metzler den Sprung in den Bundesrat. Mit ihr trat auch die Ostschweizerin Rita Roos zur Wahl an. Die beiden Frauen erhielten im ersten Wahlgang beide je 99 Stimmen. Gewählt wurde dann nach einigen Wahlgängen die junge Ruth Metzler. Leider konnte sie ihr Amt nur eine Legislatur wahrnehmen und wurde nach vier Jahren von Christoph Blocher verdrängt.

Einige Tage vor der Bestätigungswahl von Bundesrat Blocher im Dezember 2003 wurde in einer Nacht- und Nebelaktion Eveline Widmer-Schlumpf für eine Gegenkandidatur bearbeitet. Die Wählenden vernahmen erst am Wahlmorgen davon und wurden entsprechend instruiert. Der Wahlmorgen wurde zu einem kleinen Krimi oder wenigstens zu einem Thriller, da der mächtige Bundesrat Blocher an diesem Morgen nicht wieder gewählt wurde.

Je länger die Frauen in der Politik wahrgenommen wurden und ihr Können unter Beweis stellen konnten, desto eher hatten sie das Glück in ein Amt gewählt zu werden. Davon profitierten in der Folge Doris Leuthard und vier Jahre später auch Simonetta Sommaruga. 2010 gab es im Bundesrat eine Mehrheit von Frauen: vier von sieben Mitgliedern in der Landesregierung waren weiblich.

Und jetzt stehen wir vor einer spannenden Ausgangslage. Es geht um die Nachfolge von Bundesrat Ueli Maurer und um die Nachfolge von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Die SVP hat keine Frau gefunden und stellt zwei Männer zur Wahl. Die Ausgangslage ist spannend, waren doch beide Kandidaten für kurze Zeit im Nationalrat. Der eine zählt sich zum eher rechten Parteiflügel, der andere bezeichnet sich als liberal und flexibel.

Und bei den Frauen? Da gibt es in der SP eine richtige Auswahl an Kandidatinnen. Beide Nominierten sind aktuell Mitglieder des Ständerates. Die eine stammt aus Basel, die andere aus dem Jura. Beide Herkunftskantone waren bislang nur selten im Bundesrat vertreten. Am 7. Dezember 2022 wird Geschichte geschrieben. Sie wird mindestens so spannend wie die Fussballspiele in Katar. Jedenfalls für mich.

28. November 2022 – rosmarie.dormann@luzern60plus.ch


Zur Person
Rosmarie Dormann, Jahrgang 1947, war während 16 Jahren (1987-2003) Nationalrätin und gehörte der CVP-Fraktion an. Sie zählte zu den profilierten Sozialpolitikerinnen im Parlament und präsidierte unter anderem die Kommission Soziale Sicherheit und Gesundheit. Aufgrund der Wahl in den Nationalrat verlor die ausgebildete Sozialarbeiterin und Mediatorin ihre Anstellung als Amtsvormund der Ämter Sursee und Hochdorf. Nach dem Rücktritt als Nationalrätin präsidierte sie die Bethlehem-Mission Immensee (seit 2017 Commundo) sowie den Verein Traversa, der sich für Menschen mit einer psychischen Erkrankung einsetzt. Die ehemalige Amtsrichterin wohnt in Rothenburg. 1995 wurde Rosmarie Dormann mit dem Fischhof-Preis ausgezeichnet, der von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz vergeben wird.